Die Griechen benutzen für träumen und sehen dasselbe Verb. Man sieht einen Traum. Ein Traum kann nur gesehen werden. Ob das eine Erinnerung ist oder nicht, ob ich alles sah oder nur mir davon erzählt wurde, kann ich jetzt nicht sagen.

Es war Herbst, Ende September, glaube ich. Der Mais war schon trocken, reif für die Ernte. Obstbäume waren mit Fruchten beladen. Die Trauben glitzerten in dem Sonnenlicht und rochen nach Zucker und Honig und Erde. Wir hatten ein wunderschönes Wetter in dem Jahr. Meine Mutter nahm mich eines Tages und zusammen gingen wir zu unserer Nachbarin um sie zu fragen ob wir ein paar Pflaumen von ihrem Baum pflücken könnten. Sie hatte nämlich einen Baum mit wunderschönen Pflaumen – dicke und dunkellila, so duftig und saftig. Meine Mutter wollte einen Pflaumenkuchen machen und unsere waren noch nicht reif genug.
Aber sicher, sagte die Nachbarin.
Weil ihr Baum weiter hinter ihrem Haus wuchs, in der Mitte eines Maisfelds. Der hatte genug Licht und Wärme und daher hatte er schon wunderbare Früchte.
Ich musste drei oder vier gewesen sein. Ich ging mit ihr durch das Maisfeld. Der Weg schien unendlich zu sein. Wir gingen und gingen… Die Maisblätter berührten uns mit dem Geräusch von tausenden feinen Messern, krachend bei jedem Schritt, den wir machten.
Der Baum war groß und alt. Man musste auf eine Leiter steigen, um die Fruchte pflücken zu können. Meine Mutter sagte ich sollte auf sie warten. Sie wäre gleich bei mir. Ich war damit einverstanden. Der Weg war lang und es war heiß. Ich wollte nur irgendwo sitzen und mit meinem Spielzeug spielen. Sie stieg die Leiter hinauf und fing an zu pflücken. Und ich wartete. Minuten sogar Stunden gingen dann vorbei aber meine Mutter kehrte nicht zurück. Die Welt schien unendlich groß zu sein und die Mais Pflanzen schauten wie riesige Soldaten aus, mit schwere Rüstungen, lange Schnurrbärte und gelbe, aus Gold geflochtene Helme. Was schützten sie, alle diese Soldaten? Man musste es herausfinden. Vielleicht war es wichtig! Ich stand auf und ging vorsichtig zurück, in die Richtung wo wir her gekommen sind. Nach ein paar Schritte, die Soldaten machten einen Kreis um mich herum und ein Windstoß brachte ihre Rüstung zum Krachen und ihre Schnurrbärte zum gefährlich……
Ich versuchte zuerst weiter zu gehen. Aber es gelang mir nicht. Die Maisblätter machten fast eine Wand die statt Ziegeln, feine, messerscharfe Lamellen hatte. Ich werde einen Durchgang finden, dachte ich. Ich hatte keine Angst, und wartete bis der Wind mir ein Loch schaffte wodurch ich schnell verschwand. Dann fing ich zum laufen an. Ich lief und lief und ich wehrte mich mit bloße Fauste gegen die riesen Soldaten und ihre gelbe Helme und braune Schnurrbärte. Ich lief und lief. Stunden lang, vielleicht auch Tage und dann, erschöpft, fiel ich am Boden, drehte mich um, sodass ich die Riesen sehen könnte und in der gleiche Sekunde fing ich zum schlafen an. Das Laufen hörte aber noch immer nicht auf. In meinem Traum es ging weiter und weiter, jede Grenze wurde überschritten, jedes Teil in meiner Körper hatte nur eine Beschäftigung – Fortbewegung. Ich war dann am Ende. Die ganze Welt kam zu einem Schluss. Mein letzter Schwung war ein Sprung ins Leere.

Meine Mutter pflückte die Pflaumen die sie brauchte und in zwei Minuten stieg die Leiter wieder hinunter. Sie schaute nach mir aber fand nur das Spielzeug das ich hatte – ein schwarzes Pferd aus Holz. Erschrocken, sie fing mich anzurufen. Wann sie nichts von mir hörte, fing sie schnell herum zu schauen und nach Spuren zu suchen. Aber was für Spuren kann ein drei-vier Jährige hinterlassen? Nach einer Weile, sie lief zurück nach Hause und atemlos erzählte meinem Vater was passierte. Sie gingen beide noch Mal zu dem Baum und suchten nach mir. Eine Stunde später gaben sie auf und beschließen sie brauchten mehrere Leute. Nur sie alleine hatten keine Chance ein kleines Lebewesen in so einem riesigen Feld zu finden.
Aber wie? Wie konnte man so schnell Hilfe finden? Wo? Wären Drei Leute genug? Oder Zehn? Oder ein Hundert? Meine Mutter war schon hysterisch und mein Vater musste nicht nur sie beruhigen sondern auch eine Lösung schnell finden. Der Horizont fing langsam an eine rot-orangen Schicht zu bekommen. Langsam wird es Abend.
Die Glocken! Die Glocken! schriet meine Mutter. Wenn man die Glocken in einer bestimmten Art klingen lässt, die Leute werden kommen (es war der Alarmsignal wenn im Dorf ein Feuer brach aus). Jede wird verstehen dass etwas Schlimmes heißt und sie werden kommen und sie werden hilfsbereit sein.
Der Glockner war zuhause und machte sich ein neues Rad für seinen Pferdewagen. Er war nämlich Tischler und ein ziemlich guter Tischler aber nur dann wann er nicht betrunken war. Was nicht in dem Tag der Fall war. Mein Vater versuchte ihm zu erklären was los war aber er tat weiter mit dem Rad. Irgendwie passten die Teile nicht zueinander, und lagen herum wie die Teile eines Puzzles. Mein Vater verschwand keine Zeit mehr: er nahm ihn von seinem Sessel, hieb ihn hoch und sagte – Jetzt muss du mit mir gehen und die Glocken klingen. Und dann endete mit einem – Verstanden? – so laut dass das Wort die Resonanz von 10 Kaffetassen hatte und der Glockner schien in der Sekunde wieder wach und nüchtern zu werden. Er lief zu der Kirche, stieg in den Glockenturm hinauf und klänge die Glocken. Ein paar Minuten später, 20-30 Menschen kamen und mein Vater erklärte ihnen was das Problem war. Am Weg zurück, andere Leute kamen auch. Vielleicht insgesamt ein Hundert – fast die Hälfte des Dorfes. Die andere Hälfte war bestimmt noch auf den Feldern um das Dorf herum.
Unter dem Baum, meine Mutter, komplett erschöpft, rief mein Name und hörte ob ich mich zu melden versuchte.
Ein Teil von uns werde in diese Richtung gehen, das andere Teil in diese Richtung. Mein Vater koordinierte die Menschenmasse.
Wir müssen uns beeilen. Bald wird es Nacht und dann werden wir ihn nicht mehr finden, sagte jemand. Meine Mutter hörte es und lies ein kurzes Schrei aus. Sie machten sich auf der Suche. Nicht mehr als 4 oder 5 Reihe abstand: er ist klein und man kann ihn übersehen! Und sei laut! Er wird vielleicht uns hören – hoffentlich er wird weinen. Das kann uns helfen! Vielleicht wir werden ihn hören.
Aber er wollte nicht weinen. Er wollte nichts hören.
Er schlief nur.
Die Welt gibt es erst dann, wann ich sie sehe und wann ich an sie denken kann. Was war vorher? Vorher waren die Erzählungen. Tausende Jahre, vergangene Jahre die nur deswegen existieren, weil es Geschichten gibt und diese Geschichten weiter erzählt werden, geschrieben, gemalt usw. Jemand sagte einmal dass das Ohr das Auge für die Zeit wäre. Bevor ich auf die Welt kam und auch ein paar Jahre nachher, als ich zu jung war um mich an alles erinnern zu können, alles was ich sah ging verloren, außer meine Eltern erzählten es mir wieder. Und so, mein Ohr war dann das Auge für diese Zeit.
Es war spät am Abend als sie mich fanden. Die Sonne platzte in einer roten Schicht und der Mond schien schüchtern, fast durchsichtig über dem Feld. Der Mann der mich fand war groß und dünn und roch nach Knoblauch. Als er mich fand, stand ich gerade auf. Mein Gesicht hatte noch den Abdruck von dem Gras und von den Blättern worauf ich schlief. Mit zerzausten Haaren, stand ich dort und dachte, ich hatte Hunger. Ich pinkelte auf ein paar Ameisen, die herum liefen und tat als ob nichts passierte. Ein moderner, rustikaler Manekin Pis in einem gottverlassenen Dorf in Rumänien. Der dünne Man sah mich und schrie – Ich hab ihn, ich hab ihn! Er ist da!
Was für ein Glück, gefunden zu werden! Was wäre wenn es nicht passierte? Vielleicht wäre ich ein Kaspar Hause geworden. Oder ein Mowgli? Oder, vielleicht ein neuer Remus/Romulus – einer von den beiden, der immer nachdenklich geworden wäre und melancholisch wegen seiner abwesenden Hälfte. Aber wir haben keinen Wald bei uns und auch keinen Dschungel. Und die wilden Tiere sind auch bei uns nicht üblich. Eine Wölfin wäre sofort getötet worden. Sie haben keine Waffen, die Bauern, aber sie hatten Keulen und sie waren viele. Manchmal – sehr oft, eigentlich, das genügt. Wahrscheinlich, sie hätten mich doch gefunden, auch wenn es Nacht wäre, weil ich auch sehr laut schreien kann wenn ich will. Jedes Kind kann es, oder?
Aber ich hatte Glück!
Und Glück hatte ich auch als ich fast ertrunken war, in dem Teich hinter unserem Haus. Aber mein Großvater, obwohl er alt und ein bisschen hörgeschädigt war, sah mich in seinem Augenwinkel und lief zu mir, mühsam auf dem gepflügten Boden und zog mich heraus. Nur meine Haare waren noch zu sehen aber er schaffte es und rettete mich.
Und Glück hatte ich als ich den Strom entdeckte und ihn durch meinen Körper fließen liess, und wann… Ist es aber wichtig? Eher nicht! Diese Ereignisse waren schon längst vergessen gewesen und sie waren stumm geworden. Mein Ohr hörte sie nicht mehr. Das Auge aber schon. Ein kurioser Pfad – zuerst, das Ohr ist das Auge für die Zeit. Dann, man verinnerlichte diese Ereignisse wieder, und dann ist alles wieder weg. Aber das Auge erinnert sich sofort wenn das Bild vorhanden ist. Der Maisfeld oder der Teich oder die Steckdose…
Was vergaß ich schon? Woran werde ich mich nicht mehr erinnern können? Was hatten mir die Eltern (nicht)erzählt? Ich habe keine Ahnung.

Ob ich eine Antwort finden werde oder nicht, ich muss trotzdem alles schreiben.  Die Sprache ist wie eine Brille, oder wie ein Kugelschreiber beim Schreiben – eine Verlängerung des Seins. Man kann mit einer Sprache sehen, sich verständig machen, in allen Winkeln seiner Seele suchen und alles nach vorne bringen. Vielleicht wird sie neue Wurzeln bekommen und ich neue Flügel.

„Das Problem ist, dass wir keinen Überblick über unser Leben haben. Weder nach vorn, noch nach hinten. Wenn etwas gut geht, haben wir einfach Glück gehabt.“